Kirgistan, Ende Oktober. Letzte Schulwoche vor den Herbstferien in Kaji-Say. Die vier lehrreichen Wochen vergingen wie im Zug. Unter der Woche unterrichte ich in der Schule, am Wochenende unternahm ich der Abwechslung halber kleinere Touren in die Berge, wovon es in Kirgistan genügend gibt. Zu meiner Freude stieß ich dabei immer auf andere Backpacker, mit denen ich mich lang ersehnt und tiefgründig unterhalten konnte. Mein Russisch war zum Ende zwar schon deutlich besser geworden, konnte ich mich nun im Haushalt ausdrücken, zu viel mehr reichte es aber nicht. Dessen ungeachtet sind die Sorgen eines Reisenden verschieden von denen, die man im kirgisischen Dorfalltag pflegt.



Die letzte Oktoberwoche war noch einmal reinste Improvisation oder kirgisischer Alltag. Neben meinen eigenen Unterrichtstunden sollte ich auch Stunden einer Kollegin vertreten, von denen ich nur zur Hälfte Bescheid wusste. Wenn beim Absperren des Klassenzimmers Siebtklässler um die Ecke kamen, dreißig an der Zahl, die spontan unterrichtet werden wollten, bedeutete das Improvisationsunterricht. Oder es fiel ein Lehrer aus, wovon ich natürlich nichts wusste. Irgendetwas war mir noch immer eingefallen, den Haufen zu bändigen. Das war bei Vertretungsstunden voller Halbwüchsiger nicht immer leicht, in denen die Grenzen des neuen Lehrers erst einmal ausgelotet wurden. Daher gilt es, cool zu bleiben und sich bloß nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, sonst böten sich dutzende Gelegenheiten, bei denen die Kreide aus der Hand rutscht. Aufregen ist ungesund. Auch damit musste ich erst einmal umzugehen lernen.



Die Arbeitsbedingungen im Unterricht waren nicht immer leicht. Die Lehrbücher waren veraltet und hätten schon längst ersetzt werden müssen, aber dafür fehlen die Mittel. Bei wunderschönen, deutschen Lehrtexten aus den Achtzigern die von Pionierfreundschaft, Pioniergruppe, Pioniertuch, Pionierleiter, Pionierlager, Pionierabzeichen und dem Thälmann-Pionier handeln oder den Schüler über den Tag der Verfassung, den Tag des großen Oktobers und über das Leben von W. I. Lenin belehren, habe ich die Bücher schnell beiseite gelegt und anderes behandelt. Nein, diese verstaubten Texte waren großer pädagogischer Schwachsinn – waren sie für den Sprachunterricht nicht nur belanglos und langweilig, sondern vor allem viel zu kompliziert für junge Menschen, die eine Sprache erlernen wollen! Trotzdem weiß man in Kirgistan inzwischen, dass es mehr als sechs Bundesländer gibt.


In den letzten Tagen wurde ich rührig mit einem Konzert in der Aula verabschiedet, auf dem mir bereits einstudierte Choreografien gezeigt wurden. Dabei durfte ich selbst zwei Lieder beitragen, welche ich zuvor im Deutschunterricht mit meinen Schülern der achten und elften Klasse auf der Gitarre einstudiert hatte. Goethes Heidenröslein und Das Wandern ist des Müllers Lust mussten dafür herhalten, schließlich sollte auch noch etwas Inhalt vermittelt werden 🙂 Mit zweistündiger Vorankündigung wurde das Konzert kurzfristig auf Donnerstag vorverlegt, weil der Strom am morgigen Freitag abgestellt werden sollte. Alle geplanten Proben mit meinen Klassen waren dahin, es musste auch so gehen. Noch nicht einmal zum Frischmachen hatte es gereicht, nein, wieder stand die siebte Klasse vor meinem Zimmer und erbat eine Unterrichtsstunde bis zehn Minuten vor Konzertbeginn.

Der ganztägige Stromausfall am Freitag ließ sich wunderbar mit einem Subbotnik verbinden. Hier gibt’s ihn noch, den unbezahlten, monatlichen Arbeitseinsatz der Schüler (eigentlich am Samstag). Nach der Zweiten wurden die Kinder vom Unterricht entlassen und auf die Straße zum Fegen der „Fußwege“ geschickt. In Kaji-Say hat jede Klassenstufe ihren fest zugeteilten Straßenabschnitt. Umgehend wurden die zahlreichen Laubhaufen bis zu einer lokalen, mittäglichen Sonnenfinsternis angesteckt.

Samstagvormittag hatte ich schließlich meine letzten Unterrichtsstunden. Abschließend gab es eine Auswertung mit der Direktorin, bei der ich um Einschätzung der Klassen, Lehrer der Schule gebeten wurde. Und dann nahm ich nach vier wunderschönen Wochen Abschied. Abschied von meinen lieb gewonnenen Schülern und Kollegen. Sie hätten mich gern noch länger behalten und ich wäre auch noch geblieben. Aber der Moment war günstig, weiterzuziehen. Ich merkte, dass sich so etwas wie Alltag eingeschlichen hatte, auch wenn jeder Tag ein neues Erlebnis offenbarte, vom Unterricht ganz zu schweigen. Diese Anzeichen einer Routine wollte ich mit meiner Weiterreise umgehen, ist sie doch der große Feind des so reizvollen Neuen.




Ich fuhr wieder zurück, wo ich vor einem Monat hergekommen war. In der chinesischen Botschaft in Bishkek lag endlich mein Visum abholbereit, um das ich mich lange bemüht hatte. Zudem war mein Zweitpass mit dem pakistanischen Visum aus Berlin in der Post eingetroffen. Mein Freund Friedrich, dem ich zu unendlicher Dankbarkeit verpflichtet bin, hatte es mir kurzerhand in Berlin besorgt. Pakistanische Visa werden grundsätzlich nur im Heimatland ausgestellt, auch in der Botschaft in Bishkek wollte man mir keine Ausnahme zugestehen. Damit waren die Weichen für meinen weiteren Weg gestellt. Mit neuen Erfahrungen und weniger Gepäck sollte es (schon wieder) via Kasachstan nach China gehen und weiter über den Karakorum Highway nach Pakistan (wo ich mich augenblicklich, sicher, aufhalte). Zuvor, in Usbekistan, hatte ich meine schwere Spiegelreflexkamera gegen eine Guitalele eingetauscht – ich war es leid, ständig zwei Kilogramm auf der Schulter zu haben und wollte endlich wieder Musik machen. Dadurch habe ich zwar zugegeben gleich viele Dinge, aber nicht ständig um den um den Hals hängen. Und es kommt immer anders als geplant: ursprünglich wollte ich über Tibet und Nepal nach Indien, aber erstens ist ein Tag in Tibet in einer ermüdenden, geführten Reisegruppe und nur mit Passierschein sündteuer und zweitens war die chinesisch-nepalesische Grenze bis Mitte Oktober wegen des Erdbebens in Nepal geschlossen, sodass ich mich frühzeitig um Alternativen bemühte. Die dritte Möglichkeit, über den Südosten Chinas und Myanmar nach Indien zu fahren, hatte ich des großen Umwegs wegen ausgeschlossen.

Einen Monat durfte ich in Kirgistan in einer jungen Familie leben und an der Schule unterrichten. Eine wertvolle Erfahrung, bei der ich neue Ideen einbringen konnte und somit den Schülern den einen oder anderen Ansatz im Sprachunterricht vermittelt habe, woran sie nun selbstständig anknüpfen können. Ade Kaji-Say, du wirst mir in Erinnerung bleiben. Nicht zuletzt hast du mich persönlich bereichert. Ich komme zurück, bestimmt. Einige Erlebnisse aus dieser Zeit habe ich in einem Video unter folgendem Link festgehalten.
Pахмат Кыргызстан!