Besonders viel gab es in der Hauptstadt der Türkei ja nicht zu entdecken, also fuhren wir gleich am nächsten Morgen mit dem Güney Ekspresi in modernen Großraumwagen nach Kayseri, das in der Mitte des Landes liegt. Die Schnellfahrstrecke hatten wir längst hinter uns gelassen: für die 380 km benötigten wir sieben Stunden. In Kayseri gab es erst mal einen Notfall zu verarzten, da Martin sich eine üble Entzündung im rechten Auge zugezogen hatte. Während er ins Krankenhaus fuhr, schaute ich mir die Innenstadt an, in der es eigentlich nichts zu sehen gab. Das Zentrum Kayseri erstreckt sich entlang mehrstreifiger Straßen, einer Stadtbahnstrecke und entbehrt einer Fußgängerzone, in der ich hätte warten wollen. Nach nur zwei Stunden kam Martin mit drei Medikamenten erleichtert wieder. Jetzt galt es, den Busbahnhof zu finden, weil wir noch am Abend in Kappadokien ankommen wollten. Gerade noch so konnten wir den netten Teppichhändler auf der Straße dahin abwimmeln, auch wenn er uns auf einen guten Tee bei sich im Basar eingeladen hätte. Aber wir hatten es eilig, zum Bus zu kommen, bevor der Sandsturm in ein Gewitter umschlagen sollte. Einer der unzähligen Stadtbusse brachte uns irgendwie zum zehn Kilometer entfernten Fernbusterminal, Türken platzieren ihre Busbahnhöfe gern außerhalb der Stadt. Nach einer weiteren Busfahrt kamen wir schließlich in Göreme, einem der Zentren Kappadokiens an. Kappadokien ist eine aus Vulkangestein erodierte Landschaft, in der Bewohner in vergangenen Zeiten eine Höhlenarchitektur in das weiche Tuffgestein gebildet haben, die bis heute bewohnt ist. Auch unser Cave Hostel war in einen Felshang geschlagen. Das dunkle Mehrbettzimmer hatte keine Fenster und roch entsprechend streng, war dafür aber kühl und für ein Hostel sehr stilvoll eingerichtet. Nach diesem langen Tag ließen wir es uns bei einem Glas Hauswein und drei jungen Mietzen auf der Terrasse über den Dächern Göremes gut gehen.



Um die umliegende Landschaft zu erkunden, schlossen wir uns am nächsten Morgen einer vierstündigen, geführten Quadtour an. Auf den Dörfern schien es keinen öffentlichen Verkehr zu geben. Obwohl Kappadokien touristisch gut erschlossen ist und es hier scheinbar mehr Hostels als Wohnhäuser gibt, war es hier sehr ruhig. Ich fühlte mich als Gast freundlich und individuell behandelt.




Göreme war so beschaulich, dass man dort noch weitere Tage hätte bleiben können. Die Weiterfahrt nach Georgien stand aber schon fest: und zwar auf zwei unterschiedlichen Wegen. Ich wollte mit dem Nachtzug in die Osttürkei und am nächsten Tag weiter mit dem Bus an die Schwarzmeerküste zur türkisch-georgischen Grenze fahren. Der andere Martin wollte sich diese zweitägige, bahnoptimierte Reise aus mir unerfindlichen Gründen nicht antun und bevorzugte die 16-stündige, viel bequemere Direktahrt über Nacht im Bus, was ich mir nun wiederum nicht antun konnte. Die für uns Beide verträglichste Lösung hieß: Auf Wiedersehen in Georgien – ich verabschiede mich friedfertig einen Abend vor Martins Abreise aus Göreme und fuhr mit dem Bus zurück nach Kayseri, woher wir gestern kamen. Nach einem obligatorischen Çay am Busbahnhof ging es mit der Stadtbahn in Richtung Bahnhof, die bei dieser Gelegenheit gleich mal ausgetestet wurde. Der bewachte Zugang zur Haltestelle war nur mit einem elektronischen Ticket möglich, das mir nachts um 23 Uhr weit und breit keiner verkaufen wollte. Unverständlich wurde ich in irgendeine dunkle Ecke geschickt. Wenige hundert Meter entfernt fand ich ein Kiosk, das mir schließlich ein Ticket für die Tram verkaufte. Moderne Stadtbahnsysteme gehen anders. Erschreckend sah ich hier viele syrische Kinder, die auf der Straße nach Geld bettelten, und ganze Flüchtlingsfamilien, die nachts in Parks auf Decken saßen.
Gegen Mitternacht, eine dreiviertel Stunde vor Abfahrt des Zuges, begann sich der Bahnsteig zu füllen. Erst dachte ich, der Einzige zu sein, der ein Uhr nachts in einen Zug in die Osttürkei einstieg. Als der Zug mit einer halben Stunde Verspätung aus Ankara ankam, stürmten ganze Familien samt Gepäck und Säcken auf den Zug. Ernüchternd stellte ich fest, dass ich meine Nacht in einem restlos ausgebuchten Sitzwagen verbringen werde. Nur die erste Klasse führte Liegewagen, die ebenfalls ausgebucht war. Was soll’s, ich mir stülpte mir meinen Sonnenhut übers Gesicht und kramte meine Ohrenstöpsel heraus. Anders hätte man den taghellen Wagen und die drei schreienden Kindern auch nicht ertragen. Wie schaffen es Kinder eigentlich, abwechselnd 16 Stunden lang, ununterbrochen zu schreien? Einen Moment lang beneidete ich Martin, der zu dieser Zeit noch immer durch Kappadokien operte. Wenigstens wurde ich mit einer landschaftlich tollen Fahrt bis auf 2000 m hinauf belohnt!


Mit zwei Stunden Verspätung kamen wir am späten Nachmittag in Erzurum an. Plötzlich stiegen alle aus meinem Wagen aus. Moment Mal, eigentlich sollte der Zug doch noch weiter in das 200 km entfernte Kars fahren. Zufällig hatte ich mitbekommen, dass es für den Rest der Strecke einen Schienenersatzverkehr geben wird. Der wurde kurzerhand mit zwei Minibussen bewerkstelligt, die schon auf dem Vorplatz bereitstanden. Noch bevor ich richtig da war, fuhr der erste von beiden los. Der zweite hatte den Rest der Fahrgäste und deren Gepäck zu verstauen, anders konnte man es nicht bezeichnen. Was auch immer sich die Türkische Staatsbahn dabei gedacht hatte, einen Fünfwagenzug mit zwei Kleinbussen fortzuführen, ich und zwei Franzosen passten jedenfalls nicht mehr dort rein. Halb so schlimm, auf weitere Stunden im Bus hatte ich nach dieser Bahnfahrt nun wirklich keine Lust. Der Bus war weg, ein Schaffner redete noch freundlich auf Türkisch auf mich ein und verschwand wieder im Bahnhofsgebäude. Ich hatte ja immerhin bis Kars gelöst, also ging noch mal in den Bahnhof, um zu erfragen, wie ich bloß irgendwie von hier wegkomme. Da winkte mich derselbe freundliche Schaffner ins Büro hinter den Fahrkartenschalter zu seinen anderen Kollegen. Mit Händen und Füßen machte er mir klar, dass heute kein Bus mehr irgendwo hinfährt. Ich solle doch hier übernachten und morgen früh ans Schwarze Meer an die georgische Grenze fahren. Ich folgte ihm über den Bahnhofsvorplatz zu einem weiteren Bahnhofsgebäude und bekam für diese Nacht ein Zimmer in der Eisenbahnerunterkunft der TCDD. Ich war über diese schnelle und unbürokratische Lösung der Staatsbahn überrascht! Am Vortag muss es einen Anschlag auf türkische Soldaten in Kars gegeben haben soll, weswegen alle Schienenverbindungen nach Osten an diesen Tagen vorzeitig zu endeten, auch die wöchentliche Verbindung Ankara-Teheran muss betroffen gewesen sein. Am Abend blieb Zeit, Erzurum zu erkunden. Die mit 360.000 Einwohnern größte Stadt der Osttürkei wurde bei einem schweren Erdbeben 1939 zerstört, sodass sich nur noch wenige historische Bauwerke in der Stadt befinden. Auf den Straßen blickten die Leute mich neugierig an, als ob sie noch nie einen Touri gesehen hätten. In diesem Teil der Türkei sind die Leute am konservativsten: die Anzahl der Frauen ohne Kopftuch war hier verschwindend gering, dafür sah ich nun viele in Burka gekleidete Frauen.




Am nächsten Morgen befolgte ich den Rat des Schaffners und fuhr zum Fernbusterminal, das sich mal wieder ewig weit außerhalb der Stadt befand. Eine Direktverbindung nach Georgien gab es nicht, so musste ich die Fahrt stückeln. Ein Reisebus brachte mich für 20 Euro in fünf Stunden in das 2000 m tiefer gelegene Hopa ans Schwarze Meer. Dort wartete ich die Abfahrt des Minibusses bis zur georgischen Grenze ab, der erst abfuhr, bis er auch wirklich voll war. Den Grenzübergang und die Kontrollen konnte ich in einer Stunde zu Fuß durchlaufen. Hinter der Grenze standen bereits georgische Marschrutki in das gerade mal 20 km entfernte Batumi zur Abfahrt bereit, wo ich planmäßig am Nachmittag am Busbahnhof ankam. Der erste Eindruck Georgiens war wie erwartet etwas morbide, auch der Straßenverkehr lief mir sehr russisch ab. Wieder erlitt ich einen Kulturschock, ist Georgien doch ganz anders als die gerade lieb gewonnene türkische Kultur.



Wenig später traf ich Martin nach zwei Tagen wieder. Statt einer Direktfahrt per Bus wurde er ebenfalls wortlos an der Grenze aus dem Bus geschmissen und brauchte hierher länger als geplant. So hatten wir wenigstens Beide ein ungeplantes Erlebnis auf dem Weg nach Georgien zu erzählen. Den Tag verbrachten wir mit einem Spaziergang durch Stadt und zum Strand. Batumi ist einer dieser typischen Badeorte mit protzigen, auffällig vielen leer stehenden Häusern und ewig langen Promenaden am Strand entlang. Der Tourismus war sehr russisch ausgelegt, da besonders viele Russen hierhin in Urlaub fahren. Somit konnten wir auf der Straße wenigstens etwas verstehen, wenn uns die georgische Sprache schon ein großes Rätsel aufgab.



Mehr als eine Nacht war uns der farblose Badeort mit seiner unerträglich hohen Luftfeuchtigkeit nicht Wert, sodass wir gleich am nächsten Tag ins Landesinnere fahren wollten, um das andere Georgien kennenzulernen.