Die Internetzensur im Iran und Turkmenistan scheint überstanden zu sein, sodass es nun mit meinen Erlebnissen munter weiter gehen kann. Gemessen an der gegenwärtigen Situation der Flüchtlinge in Südosteuropa und ihrer Auswirkungen eines nicht hinnehmbaren Ausländerhasses insbesondere in Sachsen, fühlen sich meine Sorgen ja geradezu belanglos an. Möge denen, die ihre Existenz und Familie verloren haben, so bald wie möglich Besserung widerfahren.
Nachdem Martin und ich uns auf getrennten Wegen durch den Osten der Türkei begeben hatten, setzten wir die Reise durch Georgien fort. Wir sind in Batumi/Georgien. Dort, wo der Straßenverkehr anderen Regeln folgt, wie wir gleich auf der Marschrutka-Fahrt von Batumi nach Kutaisi feststellen durften. Unser Fahrer heizte mit seinem Kleinbus auf der Landstraße derart, sodass selbst einheimische Pendler ein-, zweimal besorgt zum Fahrer blickten. Augen zu und durch: entgegenkommende Fahrzeuge auf der Gegenspur sind grundsätzlich kein Hinderungsgrund, um zum Überholen anzusetzen. Auf der Straße stehende Kühe lassen sich durch nichts aus der Ruhe bringen, auch wenn man noch so eindrucksvoll auf sie zuhält. Der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug beträgt auch bei 120 km/h so viel wie in einer Parklücke. Die Querung der Straße wird in Georgien zu einem Geduldsspiel, da man als Fußgänger im Gegensatz zu asiatischen Verhältnissen ignoriert wird, auch wenn man schon mitten auf der Straße steht. Nicht verwunderlich, dass Georgien die Statistik der Verkehrstoten in Europa oben anführt. Die Alternative Bahn zu fahren, ist wegen des dünnen Angebots von ein, zwei Verbindungen pro Tag leider sehr unattraktiv.


Wir hatten es überlebt und waren in Kutaisi angekommen, einer Stadt auf Weltkulturerbe-Niveau. Das hiesige Zentrum ist vergleichbar mit einer mittelsächsischen Kleinstadt. Spektakulär, immerhin fahren hier im Stadtverkehr auch Busse der Verkehrsgesellschaft Meißen. Wo auch immer sich die 200.000 Einwohner aufhielten, auf den Straßen oder dem Markt waren sie jedenfalls nicht. Wir wussten uns dennoch zu beschäftigen und verbrachten zwei Nächte im Hostel bei unseren jungen georgischen Gastgebern Akaki und Toma. Nach einem vorsichtigen Annäherungsversuch am ersten Abend, luden sie uns am zweiten auf ihren selbstgebrannten Pflaumenschnaps ein. Georgier pflegen es, vor jedem Glas eine längere, tiefsinnige Rede zu halten, wem der nächste Schluck gewidmet sei. Tagsüber schauten wir uns das versteckte Welterbe zweier umliegender georgischen Kirchen aus dem 12. Jahrhundert an.



Nach zahlreichen Buskilometern bewegten wir uns endlich wieder auf der Schiene fort. Mit dem „Schnellzug“ fuhren wir in die 100 km entfernte Stadt Chiatura in der Mitte des Landes, die wir nach längeren Rangieraufenthalten und einem Umstieg in Zestaponi in sieben Stunden erreichten.


Die gerade mal 16.000 Einwohner große Stadt Chiatura ist die Seilbahnstadt Georgiens schlechthin. Da sie sich entlang eines Flusstals erstreckt, gibt es hier über 20 Personen- und nochmal so viele Materialseilbahnen kreuz und quer im Tal und über der Stadt. Viele von ihnen sind allerdings inzwischen stillgelegt und dem Verfall preisgegeben. Chiatura wurde stark vom Manganabbau geprägt, der einen Bevölkerungsanstieg und ein Verkehrsaufkommen zur Folge hatte, das mit Seilbahnen befriedigt wurde. Heute lebt nur noch die Hälfte der Bewohner hier. Die einzigen vom Bergbau erwirtschafteten Einnahmen sind nun in russischer Hand und gehen an der Region vorbei. Eine spürbare Armut: nach dem Ende der Sowjetunion brach hier das städtische Versorgungsnetz zusammen. Seitdem gibt es regelmäßig Stromausfälle und Engpässe in der Trinkwasserversorgung.
Schon im Zug dorthin merkten wir, dass wir uns in eine touristenlose Gegend begeben hatten. Das neugierige Zugpersonal machte uns zum Gespräch des ganzen Zuges. Was wollten wir bloß in Chiatura? Die Mitfahrt im Führerstand teilte ich mir mit acht anderen Weggefährten bei frischen Gurken, Tomaten und Brot, was man hier den ganzen Tag über isst. Unterwegs hielten wir an einem Brunnen, an dem der ganze Zug zum Wasserfassen ausstieg. Die Mitfahrt auf dieser Ilztalbahn Georgiens war landschaftlich ein Genuss.

Als wir abends auf dem Bahnhof ankamen, begrüßten uns graue, verfallene Häuser, leere Straßen und eine Handvoll stillstehender Seilbahngondeln. Die letzten Händler räumten gerade ihre Waren von der Straße und verschwanden. Geisterstadt-Atmosphäre – und wir, ohne Unterkunft, waren mittendrin. Die Illusion, ein Gasthaus finden zu können, hatte man uns bereits im Zug genommen. An der etwas belebteren Hauptstraße sprachen wir den jungen Resu nach einer Bleibe für diese Nacht an. Dies erwies sich als Glücksfall, denn er brachte er uns zu seinem Haus, das nur wenige Minuten entfernt von hier war. Dieses war selbst für Georgier bescheiden eingerichtet, die es bevorzugten, im benachbarten sozialistischen Block zu wohnen. Mein Lattenrost war derart durchgelegen, dass ich diese Nacht lieber die Holztruhe in der Ecke des Raumes vorzog. In einem Schuppen außerhalb befand sich ein Wasserschlauch, mit dem wir uns waschen konnten, sofern Strom für die Pumpe anlag. Die Toilette, die zum Glück etwas weiter von unserem Eingang entfernt war, lief dagegen ohne Technik tadellos, Benutzung nur bei Tageslicht empfohlen.




Seilbahnen über Seilbahnen: ich habe wohl noch nie so oft in den Himmel gestarrt wie dieser Tage. Doch sollte man die über 60 Jahre alten Konstruktionen besser nicht genauer inspizieren. Jede deutsche Überwachungsbörde hätte diese musealen Anlagen allesamt sofort stillgelegt. Leider waren nur noch zwei Bahnen im Stadtzentrum in Betrieb. Vier weitere liefen vor zwei Jahren das letzte Mal und werden derzeit, nach Aussage der Bewohner, modernisiert. Ich würde es eher „vergammeln lassen“ nennen. Und so blieb es dennoch nur ein Traum von Seilbahnen. Beim Anblick der beiden, noch verbliebenen Bahnen möchte ich nicht wissen, was zu deren Stilllegung geführt haben muss. Von derselben Talstation abgehend, hatten wir die Wahl zwischen „enjoy-your-ride“ und „the-scary-movie-one“, wie ein ukrainischer Bergbauunternehmer, den wir am Vorabend getroffen hatten, die Seilbahnen passenderweise beschrieben hatte. Während die eine betulich mit 25 % über den Fluss hinauf zu einer gruseligen Plattenbausiedlung führt, geht es mit der anderen, sogenannten „Friedensbahn“ rasant in 48 % den Hang hinauf, wo sich Manganstollen anschließen. Die Mitfahrt war jeweils kostenlos. Das Vertrauen in die veraltete Technik muss man irgendwie aufbringen, da es bei der steileren Seilbahn aus den Fünfzigern im Falle des Seilrisses kein automatisches Bremsseil gibt. Der Ausblick auf das Flusstal aus den Bullaugen der Gondel ließen jedoch alle Bedenken verschwinden. Das Seilbahnpersonal will schließlich auch jedes Mal heil ankommen und die müssen ja wissen, worauf sie sich einlassen…






Kaum waren wir wieder in unserem Campingidyll eingetroffen, wurden wir von einem dutzend Nachbarn umlagert. Es hatte sich in der Nachbarschaft rumgesprochen, dass Fremde in der Stadt sind. Gastgeber Resu machte uns mit seinen Freunden Ekaterina und Georgi bekannt und brachte frisch gekochte Bohnensuppe, die seine Mutter gekocht hatte. Unter neugieriger Beobachtung weiterer Muttis ließen wir es uns bei einem fruchtigen Hauswein schmecken. Die Ruhe währte nicht lange, denn noch am Abend wollte man uns das nahe gelegene Kloster Katskhi zeigen, das wirklich einen Ausflug Wert war.

Wir führten eine illustrierte Abendunterhaltung, da unsere Gastgeber neben Georgisch entweder Russisch, Englisch oder Deutsch sprachen und somit immer nur einer etwas verstand. Am nächsten Morgen ging es mit der Marschrutka in drei Stunden in die Hauptstadt nach Tbilisi. Wir hatten Glück, denn seit dem Morgen war in ganz Chiatura Stromausfall, sodass viele Geschäfte ihre Dieselaggregate auf den Fußwegen eingeschaltet hatten. Die Seilbahnen, mit denen wir gestern noch gefahren sind, waren außer Betrieb. Man hatte etwas auf die Holztür der Talstation mit Kreide geschrieben, Personal war keines anwesend.


So richtig hat uns Georgien nach fast einer Woche noch nicht überzeugen können. Entweder haben wir bisher die falschen Orte angesteuert oder Georgien ist schlicht und ergreifend so sonderbar. Dennoch, die unermüdliche Beständigkeit der 70 Jahre alten Technik und die Freundlichkeit der Bewohner in dieser Tristesse zu erleben, waren eine Reise nach Chiatura wert.
100 km in 7 Stunden – na, in Georgien kriegt man bei der Eisenbahn ja wirklich noch etwas für sein Geld geboten! Und obwohl ich ja viel mitmache – die Seilbahnen flößen sogar mir Respekt ein…
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