Am vierten Tag sollte es schon in die Ukraine gehen. Um 12:04 Uhr ging es in gut zwei Stunden bis zum letzten slowakischen Ort Čierna nad Tisou nahe der ukrainischen Grenze. Dort schien die Zeit still zu stehen, ein Bahnhof wie er sozialistischer hätte nicht sein können. Bis auf die Einführung des Euro hatte der Bahnhof wohl in den letzten 30 Jahren nicht viel Neues gesehen. Weder ein Fahrplan, noch eine Ansage oder geschweige denn eine profane Bahnsteigbeschilderung wiesen auf meine Weiterfahrt hin. Da aber der letzte Wagen unseres 6-Wagen-Zuges auf das Nachbargleis rangiert und an einen Ein-Wagen-Zug gehängt wurde, wusste ich, dass dies mein Anschlusszug sein muss. Dieser bestand nämlich aus einem Erste-Klasse-Wagen der ehemals tschechoslowakischen Staatsbahn aus den tiefen Achtzigern und einem zusätzlichem blau-gelb lackierten Normalspurwagen der Ukrainischen Staatsbahn. Eine merkwürdige, aber sehr diplomatische Zuggarnitur, wie ich finde.


Da mir der Lokführer fünf Minuten vor Abfahrt undefinierbar zuwinkte, stieg ich schnell in den vorderen, slowakischen Wagen ein, man weiß ja nie. Und dann passierte erst einmal 30 Minuten lang nichts. Ich wartete vergeblich auf den Abfahrtspfiff, aber keiner war weit und breit auf dem gottverlassenen Bahnhof zu sehen. Nur zwei ungepflegte Mittfünfziger saßen entfernt auf der Bank und betrachteten das Einöd bei einer Büchse Bier, aber das ist in Osteuropa nichts Besonderes. Da ich nicht wusste, wann es nun wirklich losging, setzte ich mich in einen der orangefarbenen, ausgesessenen Sessel und begann den Waggon von innen zu inspizieren, ich war ja schließlich allein: schicke analoge Anzeigen in der Mitte, die nicht funktionierten, abgerissene Tischverkleidungen, dafür eine ohrenbetäubende Belüftung und alles in einem satten orange-beige – vor dreißig Jahren muss der Wagen der letzte Schrei gewesen sein. Dann stieg doch noch jemand ein, wenig später gab es einen Ruck und es ging endlich los.

Für die gerade mal 10 km lange Strecke über die slowakisch-ukrainische Grenze benötigten wir sage und schreibe eineinhalb Stunden. Die Slowaken nahmen die Ausreise aus der EU anscheinend sehr genau und ließen uns vier Passagiere geduldig warten, während draußen mitten auf dem Feld wichtige Zollbeamte mal hektisch, meist aber gelassen mit ihren Autos an- und abfuhren. Die ukrainische Grenzkontrolle folgte dagegen erst nach Ausstieg im Endbahnhof Chop mit einer Frage nach meinem Grund der Einreise und der Kontrolle des Gepäcks. Zum Glück hatte aber keiner Lust, meine Klamotten anzusehen, also wurde ich gleich durchgewinkt.
Kam mir der vorige Bahnhof schon altbacken vor, war Chop noch mal um einige Jahrzehnte zurück: eine Bahnhofshalle wie im Bilderbuch – an beiden Wänden befand sich zwischen den Eingängen ein sozialistisches Wandgemälde aus den Achtzigern, das einen lückenlosen Bogen von der Russischen Revolution bis zum Prager Frühling zeigt. Der erste Eindruck der Ukraine ist, voreilig gezogen, etwas rustikal, aber nicht heruntergekommen. Bei diesem ehrfürchtigen Anblick traf ich auf Šimon aus Bratislava, mit dem ich mich lieber auf die Bank an die gepflasterte Hauptstraße vor die Halle setzte. Bis auf ein paar Kneipen, Kiosks und aufdringliche Taxifahrer war dort nicht viel los. Šimon war auch Alleinreisender und wollte mit dem Nachtzug über Kiev nach Wolgograd fahren. Mein Nachtzug ging hingegen schon etwas eher, in Richtung Odessa nach Lemberg. Aus mir unerklärlichen Gründen konnte ich an diesem Tag nur diesen Nachtzug nach Kiev über Lemberg im Internet buchen, auch wenn ich schon Mitternacht in Lemberg ankommen sollte, also nicht wirklich über Nacht fuhr. Bloß gut, denn die frühere Verbindung hätte ich wegen der verspäteten Ankunft aus der Slowakei verpasst.


Šimon, der sich ebenfalls für den Betriebsablauf auf dem Bahnhof interessierte, brachte mich noch bis zum Bahnsteig. Dieser war 20 Minuten vor Abfahrt bereits gut gefüllt, da der Nachtzug gerade eingefahren war. Am Eingang eines jeden Wagens des 15-Wagen-langen Zugs stand eine Provodnica, eine meist junge, hübsche Schlafwagenschaffnerin, welche die Tickets der Zusteigenden kontrolliert. Fünf Minuten vor Abfahrt kam die Ansage zur Aufforderung, einzusteigen und dann ging das Vergnügen los – endlich mal wieder eine Nachtzugfahrt im Osten! Bahnfahren in der ehemaligen Sowjetunion kann man eigentlich kaum in Worte fassen, man muss es einfach erlebt haben. Ja, hier ist die Welt noch in Ordnung, hier hat die Bahn noch einen Stellenwert. Als ich mein Vierer-Kupeyni-Abteil betrat, lagen meine drei Mitreisenden schon flach. Nach einer kurzen Begrüßung wird normalerweise auch gleich das Bett gemacht, denn Ordnung muss sein. Wenig später kommt die Provodnica, sammelt die Tickets ein und schaut, ob alles seinen Gang läuft. Wenn man Glück hat, wird einem sogar noch ein Čaj serviert, sonst holt man ihn am Eingang neben dem Samowar, dem kohlebefeuerten Ofen zur Teezubereitung, selbst ab.
Auf der Liege gegenüber kam ich sofort mit meinem Mitreisenden ins Gespräch, um dessen Namen ich ganz vergessen hatte, zu fragen. Der Abiturient sprach bemerkenswerterweise fließend Deutsch, kam ursprünglich aus Lemberg und wohnt seit ein paar Jahren mit seiner Familie in Bratislava. Die siebenstündige Zugfahrt verging schnell, schon kamen wir pünktlich kurz nach Mitternacht in Lemberg an. Dort hatte ich am Abend vorher ein Hostel unweit des Bahnhofs gebucht. 100 Grivna kostete mich die Nacht allein im komfortabel eingerichteten Achtbettzimmer, was umgerechnet nicht einmal vier Euro sind. Nach dem Verfall der Währung seit der Revolution im letzten Jahr sind die Preise in der Ukraine für Touristen im Schnitt auf ein Drittel gesunken, sehr zu Lasten der ausländischen Importe. Eine Einzelfahrt mit der Tram kostet umgerechnet vier Cent, einen Nachtzugfahrt 5-10 Euro. Ich weiß gar nicht, wie ich die 2.000 Grivna, die ich als Mindestbetrag am ATM abgehoben habe, innerhalb einer Woche ausgeben soll.
Lemberg, ukrainisch Lviv oder russisch Lvov, hat einen kleinen, aber sehenswerten Altstadtkern aus Gründerzeitfassaden. Nachdem ich auch ein paar Außenbezirke per Tram erkundete, hatte ich das Wesentliche an einem Tag gesehen.

Am Abend nahm ich den Nachtzug gen Osten nach Kiev, worauf ich mich schon freute. Die ersten zwei Stunden hatte ich das Abteil für mich allein, die eingeschweißten Bettlaken kündeten aber schon Gesellschaft an und das ist ja gerade das Angenehme am Zugreisen, zumindest, wenn man alleine tourt. In der Ukraine fährt man Nachtzug, da bleibt kein Platz unbesetzt. In Ternopil stieg Aleks sowie eine Mutter mit ihrem erwachsenen Sohn ein, die ebenfalls nach Kiev wollten. Aleks sprach halbwegs Englisch, so erzählte er mir bildhaft von seinen Auslandseinsätzen des ukrainischen Militärs in Afrika, wie spannend. Passenderweise gab es später noch einen gewaltigen Actionfilm, von dem das ganze Abteil was hatte. Die Kopfhörer hatte er vielleicht vergessen. Beeindruckt war ich aber von seiner Professionalität, eine Nachtzugliege herzurichten. Irgendwie muss meine etwas lieblos bezogen ausgesehen haben, erfüllte sie aber zumindest ihren Zweck! Diesen Anblick konnte Aleks wohl nicht ertragen: noch bevor ich etwas sagen konnte, zog er Bettlaken und Bezug meiner Liege wieder ab und richtete mein Bett in nur wenigen Augenblicken neu an. Dann nahm die Mutter beherzt mein Kopfkissen an sich, lächelte verschmitzt und schlug es ebenfalls neu auf. Als wäre ich bitteschön noch nie Nachtzug gefahren, aber gefreut hat’s mich dann irgendwie schon, die Stimmung war gut.


Mein persönliches Debüt der Ukraine fällt recht positiv aus – die Leute sind freundlich und herzlich, das allgemeine Erscheinungsbild ist nach drei Tagen Slowakei wie erwartet gewöhnungsbedürftig rustikal. Ganz so russisch wie vermutet ist die Ukraine dann aber doch nicht, ich habe mich in Lemberg eher an Riga erinnert gefühlt. Na mal sehen was die Hauptstadt morgen so mit sich bringt.