Es ist 5:30 Uhr am Morgen als die Hauptstadt der Ukraine und ich gerade in einem unterschiedlichem Tempo erwachen. Mein Nachtzug war pünktlich in Kyiv Passagieri angekommen. Die Sonne scheint und wird wohl wieder einen heißen Tag bescheren. Ich wollt es langsam angehen, schließlich war es gerade mal sechs Uhr und zu früh, um in ein Hostel einzufallen. Also gab ich meinen Rucksack in einer der non-stop Gepäckaufbewahrungen in dem riesigen Bahnhof ab und setzte mich in eine Schnellimbisskette, um übers Internet die Bleibe für die nächsten zwei Nächte zu buchen. In der schönen, neuen Welt ist das ja wunderbar einfach. Dann hielt mich nichts mehr drinnen, ich war neugierig, wie die ukrainische Hauptstadt tickt.Kiev hat eine Menge zu bieten, wie ich schnell feststellte. Neben zwei ausgedehnten Straßenbahnnetzten links und rechts des Dnepr, erstreckt sich die Stadt kilometerweit auch über das Zentrum hinaus mit prachtvollen Gründerzeitfassaden, herrlichen Parks und Denkmälern. An dem im letzten Jahr wieder bekannt gewordenen Maidan, dem zentralen Platz, kommt man schon aus verkehrlicher Sicht nicht vorbei. Der Platz war vormittags so ruhig, ja fast menschenleer, sodass ich mir gar nicht vorstellen konnte, dass hier vor über einem Jahr eine Revolution begann und mit ihr der Sturz des Expräsidenten Janukowytsch folgte. Daran erinnern nur noch großformatige Collagen und Unmengen an Grabkerzen rings um die riesige Unabhängigkeitssäule. Eindrucksvolle Fotos zeigen Kriegsschauplätze im Donbass, Tote und Ruinen, die unter die Haut gehen. Mitten in Europa – das versetzte mich schlagartig in eine nachdenkliche Stimmung. An einer vom Maidan abgehenden Straße sind unzählige Grabsteine mit Fotos meist junger Soldaten dicht aneinander gereiht. Einige von Ihnen waren mein Alter oder jünger als ich. Ich wundere mich über Soldaten, die mit einer Geldbüchse umherlaufen. Die ukrainische Armee ist nach über einem Jahr Konflikt mir pro-russischen Kräften schlichtweg pleite, wie ich noch später erfahren sollte und versucht, darüber zusätzliche Mittel zu akquirieren.



Nachmittags schaute ich mir das U-Bahn und Tramnetz mal genauer an. An Straßenbahnendpunkten oder fernen U-Bahnstationen in der Stadtagglomeration spielt sich, wie so oft, das wahre Leben ab. Hier wird mit allem gehandelt was der ukrainische Markt hergibt. Dazwischen werden frisch zubereitete Teigtaschen garantiert zum stadtgünstigsten Preis verkauft – perfekt, um eine lokale Zwischenmahlzeit einzunehmen. Dort, wo man eigentlich keinen Ausländer vermutet, sprach mich ein Neuseeländer von hinten an, ob es auch süße Teigtaschen gäbe. Zwischen Tomaten und Aprikosen kamen wir ins Gespräch und wurden von den Händlern von Stand zu Stand gejagt, weil wir ihnen im Weg standen und mit unserem Kauderwelsch womöglich noch Kundschaft vertrieben. Was wohl ein 61-jähriger, vollbärtiger Kerl in Rockershirt und Sandalen hier verloren hat, wenn er schon nicht an öffentlichen Verkehrsmitteln interessiert war? Jack versuchte gerade einen neuen Markt für alte Motorbikes aus der Sowjetunion für den englischsprachigen Raum zu erschließen. Womit sich Leute doch nicht alles an Straßenbahnendpunkten beschäftigen können.

Mühelos verbachte ich den zweiten Tag mit weiteren Rundgängen und –fahrten in Kiev und stellte fest, dass man in der vier Millionenstadt ohne Weiteres auch eine Woche zubringen könnte. So beschloss ich, noch einen dritten Tag dranzuhängen und am selbigen Abend den Nachtzug nach Odessa zu nehmen. Ursprünglich wollte ich auf dem Weg nach dorthin einen kleinen Bogen flussabwärts über das östlich gelegene Dnepropetrovsk fahren. Leider machten mir aber die bereits ausgebuchten Nachtzüge vor allem von dort nach Odessa einen Strich durch die Rechnung. Es ist schließlich high season Ferienzeit, in der scheinbar alle Ukrainer ans Schwarze Meer fahren, wenn man schon nicht mehr auf die Krim reisen kann.


Am Abend lernte ich einen 27-jährigen Australier vom benachbarten Hostelzimmer kennen. Daniel tourt seit sechs Wochen durch Südosteuropa und wird bald in St. Petersburg Englischunterricht geben. Spontan begaben wir uns auf die Suche nach den anderen Leuten des Hostels, die bereits in einem ukrainischen Pub sein sollten. Wir landeten in einer Hinterhof-Kellerkneipe, in der gerade die Post abging. Ein Barkeeper pfiff und schrie zwei Männer am Tresen an, die einen Sowjethelm trugen und ein Glas nach dem andern vor ihm leeren mussten. Dabei wurde der reichlich mit Alkohol bedeckte Helm angezündet, bis alle Gläser leer waren. Verrückte Rituale haben die da – meine Feuerwehrfachfrau des Vertrauens hätte da vielleicht schon längst eingegriffen. Auf jeden Fall wissen die Ukrainer wie man einen Freitagabend gesellig begeht. Zwar haben wir niemanden aus unserem Hostel gesehen, kamen dafür aber mit Andrej und Andrej, zwei Einheimischen aus Kiev ins Gespräch. Es dauerte nicht lange, bis wir auf den Donbass, die bösen Russen und den Konflikt zu sprechen kamen, obwohl ich mich explizit zurückgehalten hatte. Es war schon spannend, die Hintergründe durch eine blau-gelbe Brille zu sehen. Daniel und ich sahen dann irgendwann zu, nach ein paar spendierten Runden Wodka, wieder zum Hostel zurückzukehren. Das war bei einem Preis von nicht mal 75 Cent pro Glas und der Tatsache, dass Freitagabend war, für die Ukrainer nicht wirklich nachvollziehbar, aber sie ließen uns ziehen.
Da ich mir bis fast zuletzt offenhielt, doch noch nach Osten zu fahren, waren bereits sämtliche Liegenwagenplätze nach Odessa der nächsten Tage ausgebucht. So blieb mir nichts anderes übrig, als im doppelt so teuren Schlafwagen erster Klasse zu fahren. C’est la vie, die 20 Euro waren für europäische Verhältnisse auch immer noch erschwinglich und vor allem gut angelegt: das Bett war bereits bezogen, man hatte ausreichend Platz und konnte bequem sitzen, da die oberen Liegen fehlten. Der Nachtzug ging erst abends um 10 Uhr und ging über neun Stunden.

Ich teilte mir das Abteil mit dem 63-jährigen Rentner Sergej, der leider nur wenige Brocken Englisch, dafür aber non-stop Russisch sprach, auch wenn ich ihm immer wieder klar machte, dass ich bei weitem nicht alles verstehe. Bei Sergej war die osteuropäische Gabe leider besonders ausgeprägt, dann erst recht loszulegen. Bei einem erste-Klasse-Service am Platz mit endlos Tee nahm ich es gelassen und hörte und schaute seinen Gesten zu. Tatsächlich unterhielten wir uns zwei lange Stunden, in denen ich eigentlich meinen nächsten post schreiben wollte. Und wie so oft bekommt man dann auf auf solchen Nachtzugfahrten jene Dinge erzählt, die man eigentlich gar nicht wissen will. Sergej ist pensionierter Verkehrsökonom aus Kiev und seinen Aussagen zufolge, Verfasser mehrerer wissenschaftlicher Bände in der russischen Sprache. Irgendwann vor zwanzig Jahren hatte er jedenfalls eine florierende Firma gegründet, womit er viel Geld verdient haben muss. Und sprach plötzlich mit leiser Stimme und vorgehaltener Hand von seinem Haus und Anlagen auf Zypern, woher er gerade mit drei dicken Koffern herkam. Die Nacht war kurz, denn halb sechs räumte Sergej schon wieder irgendwas, der korpulente Mann konnte einfach nicht still halten. Noch gar nicht ganz wach, redete er wieder auf mich ein, holte eine Plastikbox aus seinem Koffer und zeigte mir seine fette Sammlung von US-Silbermünzen. Wie nur, dachte ich mir, schaffe ich es eigentlich immer, die richtigen Leute anzuziehen. Tatsache ist: Geld schafft dicke Menschen und verdirbt den Charakter. Nach zwei morgendlichen Tee kamen wir dann sieben Uhr morgens in Odessa Glovni an. Und ich war froh, endlich wieder in Ruhe weiterzuziehen.