Stippvisite in Dresden

Nordostrumänien. Die Nacht war kurz, da John und Andrea schon um sechs Uhr morgens zur Arbeit mussten. Sie brachten mich zum Bahnhof, in dem ich in eines der Schließfächer mein Gepäck einschloss. Die Stadt Botoșani war mir kein unbeschriebenes Blatt, da ich hier schon einmal vor fünf Jahren auf einer Osteuropareise mit Tim vorbei gekommen war. Der Charme dieser 100.000-Einwohner-Stadt erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Nur eingefleischte Dresdner und andere Verrückte erkennen auf den zweiten Blick, dass der hiesige Trambetrieb mit ehemaligen Dresdner Straßenbahnen betrieben wird. Bevor es nach Bukarest weiterging, wollte ich hier einen Zwischenstopp einlegen und schauen, was sich seitdem verändert hatte. Die Hauptstraße, die vor fünf Jahren noch unbefestigt war, ist nun ausgebaut. Auch der Bahnhof wurde grundlegend saniert und ist kaum wiederzuerkennen. Beim Einstieg in einen schwarz-gelben Tatrawagen wurde ich passend mit einem Guten Morgen, Dresden-Aufkleber der Morgenpost begrüßt. Dem Zielfilm zufolge fuhr mit der Linie 1 nach Cotta. Die aktuelle Fahrgastinformation zeigte die Umleitungen für den 1. Bauabschnitt der Tiefgarage Altmarkt aus dem Jahre 2008 – eine verkehrliche Stippvisite in Dresden. Bis auf eine außen angebrachte Liniennummer haben die gebrauchten Trams keine Änderung erhalten. Sie fahren seitdem originalgetreu auf maroden Gleisen durch Nordostrumänien wie sie aus Dresden übernommen wurden. Leider funktionieren die eingefahrenen Altbaufahrzeuge aber nicht ganz so reibungslos. Da es keine Ersatzteile mehr gibt, sind Improvisation und Kreativität bei der Reparatur gefragt, wie ich beim Besuch des Depots feststellen musste. Einer der Mitarbeiter führte mich freundlich über das Gelände und durch die Werkstatt. Als ich erzählte, dass ich bei den Dresdner Verkehrsbetrieben gearbeitet habe, kamen zwei Techniker auf mich zu.
Einer von ihnen, Petrisor, sprach ganz gut Deutsch, da er schon einmal in Deutschland gearbeitet hat, wie so viele hierzulande. Er erklärte, dass es Probleme mit dem Steuergerät der Triebwagen gibt und holte gleich einen Schaltplan heraus. Er wollte von mir wissen, ob ich nicht nähere Unterlagen hätte. Okay, zwar weiß ich wofür der Thyristor-Umformer auf dem Dach gut ist, aber nicht, wie man sein Innenleben repariert. Zumindest bot ich ihnen an, einen direkten Kontakt zu meinen Dresdner Kollegen herzustellen. Faszinierend, was einem nicht alles passieren kann, wenn man mal in Rumänien einen Straßenbahnbetriebshof betritt. Lebenserhaltende Maßnahmen für ehemalige Dresdner Tatras ist mir doch eine Herzensangelegenheit.

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Botoșani, das Dresden des Ostens, zumindest aus verkehrlicher Sicht. Hier fährt die Linie 1 noch nach Cotta. Grüße an die Kollegen vom Conertplatz 😉
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Ein Blick in die Werkhalle des jüngsten Straßenbahnbetriebs Rumäniens. Technische Probleme zwingen die Handwerker zu kreativen Lösungen
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Wagenhalle der in Reparatur befindlichen Wagen

Die Leute hier wahnsinnig freundlich, dass ich ihnen damit vielleicht etwas zurückgeben kann. Nach nur zwei Stunden war ich bereits stadtbekannt – das Fahrpersonal grüßte mich freundlich oder hielt mitten auf der Straße für einen persönlichen Handschlag an. Ich kann es nur immer wieder sagen, Rumänen sind einfach die freundlichsten Osteuropäer, die ich kenne.

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Das Personal ist herzlich und gut gelaunt wie diese charmante Schaffnerin am Endpunkt Primăverii

Schade, dass ich schon mittags den Zug zur Weiterfahrt nahm. Die Möglichkeiten, von hier wegzukommen, hielten sich leider in Grenzen. Fast hätte ich den Zug verpasst. Da ich mich im Tramdepot mit der Dienstplanerin Anamaria verquatscht hatte, war ich sehr spät dran. Zwei Minuten vor Abfahrt musste ich noch schnell im Bahnhof ein Ticket lösen und das Gepäck aus dem Schließfach holen: ich rannte zum Schalter, sagte București und legte 100 Lei auf den Tisch. Ich lief zum Schließfach, das sich aber einfach nicht öffnen ließ. Hektisch kämpfte ich mich durch das rumänische Menü des Automaten. Nach etlichen Versuchen öffnete sich schließlich mein Schließfach. Plötzlich kam der Abpfiff meines Zuges – ich lief zum Fahrkartenschalter, an dem schon mein Fahrschein und Wechselgeld bereit lagen, rannte zum Bahnsteig, an dem sich der Zug gerade in Bewegung gesetzt hatte. Da die Türen noch geöffnet waren, sprang ich entgegen heftigen Pfeifens des Bahnhofvorstehers auf den anfahrenden Zug auf. Eine freundliche Schaffnerin streckte ihre Hand aus und half mir in den Wagen. Zugegeben etwas beschämend, aber schließlich war ich in Rumänien und da gehen die Leute überall über die Gleise. Act like a local, man muss sich ja anpassen 🙂

Bei angenehmen 37 Grad und verrammelten Fenstern ging es auf direktem Wege in neun Stunden in die rumänische Hauptstadt. Um București, dem angeblichen Paris des Ostens, kommt man meistens nicht herum, wenn man das Land durchquert. Bereits zwei mal habe ich vergeblich versucht, mit dieser Stadt warm zu werden. Auf eine dritte Chance hatte ich heute keine Lust, also verbrachte ich den Abend lieber im Hostel. Denn morgen Mittag sollte es schon wieder weiter nach Bulgarien gehen.

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Aufenthalt im Bahnhof Verești
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Anders als im Norden ist die Landschaft der Walachei im Süden Rumäniens eintönig und flach
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Bukarest, das Paris des Ostens glänzt nicht nur am Bahnhofsvorplatz mit seinem unverwechselbaren Charme

Der abenteuerliche Nachtzug BucureștiIstanbul, den ich vor fünf Jahren einmal mit Alex gefahren bin, existiert leider nicht mehr, sodass ich die Fahrt stückeln musste. Zunächst ging es mit dem internationalen Zuglauf nach Sofia über die Donau in die bulgarische Stadt Ruse. Da mein Zug eine halbe Stunde Verspätung hatte, war der Anschlusszug in Richtung Schwarzes Meer natürlich weg. Konnte ich mich ja denken, dass fünf Minuten Übergangszeit in Bulgarien nie funktionieren würden. Also verblieb ich im selben Zug, in dem scheinbar ausschließlich europäische Interrailer oder Australier mitfuhren. In Gorna Orjahovica, einem Kaff inmitten Bulgariens, stieg ich in einen anderen Zug nach Varna in Richtung Schwarzes Meer um. Da ich noch kein Ticket hatte, wurden der Schaffner und ich uns recht schnell einig. So läuft das in Bulgarien. Kurz darauf stieg ich in Veliko Tarnovo aus, da ich gehört hatte, dass sich eine Besichtigung lohnt. Nach Istanbul kann ich auch morgen noch fahren. Mit einer Australierin und zwei Engländern lief ich den Weg ins Zentrum, das sich malerisch am einen Hang des Balkangebirges erstreckt. Auf dem Weg dahin kamen wir am Busbahnhof vorbei. Ursprünglich hatte ich vor, am nächsten Tag bis nach Burgas zu fahren und von dort einen Bus nach Istanbul zu nehmen, um die gummibereifte Fahrt zu minimieren. Ein Busbetreiber bot noch am selben Abend eine Fahrt für 60 Leva, umgerechnet 30 Euro, nach Istanbul an. Einfacher hätte ich es kaum haben können, also entschied ich mich kurzerhand für diese Variante. Bis dahin blieben mir einige Stunden, die überschaubare Stadt zu erkunden. Veliko Tarnovo ist einer der ältesten Städte Europas, die bereits in der Bronzezeit besiedelt war.

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Grenzkontrolle und Lokwechsel nach Donauüberquerung im ersten bulgarischen Bahnhof Ruse
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Die Stadt Veliko Tarnovo entstand geologisch durch Flusserosionen im nördlichen Balkangebirge
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Die letzte Etappe musste dann doch noch per Bus zurückgelegt werden: Hunter bringt mich am späten Abend noch nach Istanbul

Am nächsten Morgen kam ich nach neun langen Stunden Busfahrt müde in İstanbul an. Die umfangreiche Grenzkontrolle nachts um zwei schien mir kürzer als noch vor zwei Jahren. Einen Kultürschock, den ich durch das etappenweise Reisen eigentlich vermeiden wollte, bekam ich dennoch. Gut, dass Samstagmorgen war und die Stadt noch nicht ganz erwacht war.

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