Auf der Seidenstraße durch die Stans

Über einen Monat habe ich nichts mehr von mir hören lassen: höchste Zeit für eine, diesmal aktuelle Wasserstandsmeldung. Und die kommt diesmal aus Kirgistan. Ja, ich lebe noch – momentan in dem kleinen Dorf Kaji-Say, zwischen dem Tian-Shan-Gebirge und dem Issyk-Kul-See, inmitten Kirgistans, wo ich in einer Dorfschule für einige Zeit unterrichte. Jawohl, es hat sich eine Menge getan. Aber der Reihe nach, denn seit meinem letzten Bericht aus Armenien ist schließlich eine Menge passiert. Ein Versuch des Aufholens…

Nach drei ereignisreichen Wochen quer durch den Iran mit meinem Freund Martin, in denen wir die kaum vergleichbare, iranische Gastfreundlichkeit und Herzlichkeit kennenlernen durften, ging es für mich wieder allein in Richtung Zentralasien weiter. Von der Pilgerstätte Mashhad in Osten Irans durchquerte ich das groteske Land der Turkmenen im Transitvisum. Die exorbitant hohen Hotelpreise speziell für Ausländer (Hostels gibt es nicht) umging ich durch eine günstige Nachtzugfahrt und einer warmen Übernachtung in der Karakumwüste neben dem Tor zur Hölle. Einem absurden Gaskrater, der seit vierzig Jahren Erdgas verpulvert. That’s Turkmenistan.

Wüstenexpedition mit dem Kamel im Iran bei angenehmen 43 Grad südlich von Yazd.
Wüstenexpedition im Iran mit dem Kamel bei angenehmen 43 Grad südlich von Yazd.
Das ist Turkmenistan: ein 70 m breiter Gaskrater mitten in der Wüste und niemanden stört's
Das ist Turkmenistan: ein 70 m breiter, brennender Gaskrater mitten in der Wüste und niemanden stört’s

Von der einen Diktatur ging es zu nächsten, Usbekistan. Hier schienen wenigstens die Leute wieder freundlicher und interessiert am erkennbar, seltenen Fremden zu sein, wie ich es im weitaus intensiveren Maße aus dem Iran gewöhnt war. Dennoch erfreute ich mich an der wieder wärmeren, usbekischen Kultur und Küche(!), die ich in zwei Wochen von West nach Ost durchstreifte, nun schon knapp 5000 km Luftlinie von der heimatlichen Elbe entfernt. Fast mystisch bewunderte ich die großartig erhaltene, orientalische Architektur wie in KhivaBuchara und Samarqand entlang der alten Seidenstraße, mal gemeinsam mit anderen Reisebekanntschaften aus Belgien, Kasachstan, Polen und Kanada, mal allein.

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Samarqand – einst ehrwürdiges Handelszentrum auf der alten Seidenstraße und bis heute im Kern gut erhalten

Mitte September stieß ich im benachbarten Almaty/Kasachstan nicht ganz zufällig auf eine Gruppe meines Dresdner Vereins Verkehrte Welt, die sich zu dieser Zeit gerade auf der Rückreise ihrer Studienreise aus dem schönen Omsk befand. Auf einen Schlag hatte ich zwölf andere Mitstreiter an der Hacke, die sich aber als recht friedfertig erwiesen 😉 Die nächsten anderthalb Wochen tourten wir gemeinsam durch Central Asia, wie man die fünf Stans auch passenderweise gern zusammenfasst. Alsbald ging es von Kasachstan ins benachbarte Bishkek, der Hauptstadt Kirgistans, von der ich, ehrlich gesagt, auch noch nichts vernommen hatte. Sonderbar viel nehmen sich die straßengeprägten Hauptstädte Zentralasiens ohnehin nicht. Wohl aber die herrlichen Landschaften, die wir, fortan nur noch zu fünft, in Kirgistan per Auto durchquerten. Nun, bis auf ein paar verschlissene Trolleybusnetze ist es in Kirgistan mit dem öffentlichen Verkehr leider nicht weither.

Auf Exkursion mit Verkehrte Welt: Besuch der Verkehrsfakultät in Almaty
Schön, noch einmal studentisch mit Verkehrte Welt unterwegs zu sein: Besichtigung der Labore an der Verkehrsfakultät in Almaty
Wer Kirgistan bezwingen will, muss sich auf unwegsame Geländetouren einlassen
Wer Kirgistan bezwingen will, muss sich auf unwegsame Geländetouren einlassen

Aber auch diese illustre Runde verabschiedete sich bald im usbekischen Tashkent von mir. Seitdem verließ mich die tagfeine Planung, die ich immerhin zweieinhalb Monate durchgehalten hatte! Wie durch einen Befreiungsschlag konnte ich nun ohne Termine im Hinterkopf reisen, lediglich wissend, dass mein bereits in Berlin erworbenes Indienvisum bereits Ende Dezember ablaufen wird. Nach dieser recht langen, gefühlt aber kurzen Zeit, richtete sich mein Interesse nicht mehr auf die Sehenswürdigkeiten, sondern vielmehr auf die Menschen und deren Kultur. Plötzlich schien der Aufwand, noch eine Moschee oder Medresse zu besichtigen enorm hoch – waren sie wohl kaum anders als all die anderen, die ich bereits gesehen hatte. Vielleicht waren es erste Anzeichen der Sättigung oder Reisemüdigkeit, aber keineswegs Heimweh. Wie eine Fügung stieß ich in Tashkent auf den weltreisenden Thomas, der mit Rad und Zelt seit einem Jahr in 13.000 km bis hierher aus Frankreich geradelt war, wodurch ich eine noch ganz andere Sichtweise auf das Reisen bekam. Als ich daraufhin noch einen Thüringer traf, der seinen Backpacktrip in Zentralasien unterbrochen hatte, um für den Pamir highway in Tadschikistan sein Fahrrad von zu Hause zu holen, war ich kurz davor, ihm gleichzutun und meine Reise noch individueller mit dem Fahrrad fortzusetzen. Es folgten zwei gedankenreiche Tage, in denen ich tatsächlich hin- und hergerissen war. Nein, ich wollte nicht aufgeben und entschied ganz anders, es musste schließlich eine Änderung her: Ich beschloss, noch eine Weile länger als geplant in Zentralasien zu verweilen.

Mitreisende Stimmung, wenn Backpacker und Weltreisende unter sich sind: im Topchan Hostel in Taschkent/Usbekistan
Mitreißende Stimmung, wenn Backpacker und Weltreisende unter sich sind: im Topchan Hostel in Taschkent/Usbekistan

Das Visum Tadschikistans hatte man mir auf der tadschikischen Botschaft in Bishkek leider verwehrt, nachdem einmal wieder kritische Leute in einem Anschlag in Duschanbe minimiert wurden. Also musste ich den Traum vom atemberaubenden Pamir highway und seinen noch gastfreundlicheren Menschen streichen. Nächstes Mal. Stattdessen suchte ich nach einer Möglichkeit, mich für einige Zeit in sinnvoller Tätigkeit, die nicht Reisen sein sollte, niederzulassen. Ich suchte nach einer geeigneten Möglichkeit, die dankbar empfangene Gastfreundlichkeit wildfremder wie neuer Freunde auf meiner Reise in irgendeiner Form an die Menschen zurückzugeben. Ich knüpfte Kontakt zu einer kirgisischen NGO, die nachhaltige Projekte betreut. Binnen weniger Tage hatte ich die Zusage, in irgendeiner Dorfschule ehrenamtlich als Lehrer in Englisch und Deutsch auszuhelfen. (Warum auch immer man Deutsch in einer 5000 km von Deutschland entfernten Schule lernt, aber das hat bekanntermaßen historische Gründe.) Es hieß, dort wären nicht genügend Lehrkräfte vorhanden, sodass mich die Direktorin herzlich einlud, als Hilfslehrer auszuhelfen. Mit großer Freude sagte ich zu! Nach meinem Geburtstag, den ich in der Hauptstadt Bishkek mit alten Reisebekanntschaften zelebrierte, fuhr ich in das fünf Stunden entfernte Kaji-Say am Issyk-Kul-See. Und wie es im Ehrenamt so üblich ist, werde ich natürlich nicht bezahlt, wohne aber in einer jungen kirgisischen Familie mit drei reizenden kleinen Dingern umsonst und werde gut versorgt. Die umgerechnet 120 Euro, die ein Lehrer bekommt, würden mich auch nicht wirklich weiterbringen. Offizielle Papiere wie mein Diplomzeugnis, die ich vorher noch mühevoll über Gruna (danke Martin!) scannen ließ, wurden indes nicht verlangt, sondern vertrauensvoll abgenickt.

Angekommen: erster Abend in meiner kirgisischen Gastfamilie
Angekommen in Kaji-Say: erster Abend in meiner Gastfamilie: Adyl, Asel, Nuriman und Alinur (Nurperi fehlt).

In den ersten Tagen hospitierte ich alle relevanten Stunden unterschiedlicher Stufen, um mir ein Bild über den Kenntnisstand der Schüler und Lehrer in Deutsch und Englisch zu machen und um mich vor allem vorzustellen. Und dann ging es am dritten Tag auch gleich richtig los. Ich freundete mich schnell mit den Lehrern an, die mit wenigen Ausnahmen zwischen 30 und 40 Dienstjahren auf dem Buckel haben und geradezu verschlissene Routine ausstrahlen. Da ich den bestehenden Unterricht nur mit meiner Assistenz auffrischen kann, begann ich meine eigenen Nachmittagszirkel zu gründen. Dort vermittle ich den Kindern vor allem eines, das freie Sprechen und zwar ohne Lehrbuch, Tafel und Sitzordnung. Das kommt an. Da nachmittags nur diejenigen kommen, die auch wirklich wollen, macht mir das und den Schülern umso mehr Spaß.

Deutsch-Zirkel nachmittags in der 8a mit liebevoll gestalteter Umgebung -Heimatgefühle!
Nein, an dieser überaus patriotisch gestalteten Wand habe ich keine Aktie: hier im Deutsch-Zirkel nachmittags in der 8a, noch mit Galina (Beachte aber die schönen Fotos links!)

In der vorigen Woche ging es sportlich zu, da ich eine Lehrerin in Deutsch und Englisch vertreten durfte. Seitdem hatte ich von der ersten bis zur fünften Stunde durchgängig irgendeine Klassenstufe, was ordentlich an Vorbereitung erforderte. Schließlich will ich den Kindern keine Geschichten erzählen, die sie ohnehin nicht verstehen, sondern im Stoff weitergehen und dort nachhaken, wo es klemmt. Und damit fallen mir genug Exkurse ein. 45 Minuten vergehen wie im Flug und eines ist gewiss: der Unterricht läuft immer anders ab als geplant. Aber genau das ist das Reizvolle am Unterrichten, da man als Lehrer unheimlich gefordert wird, auf die Schüler einzugehen. Allerdings ist es eine echte Herausforderung, eine vierte Klasse nur in der zu lehrenden Unterrichtssprache zu unterrichten. Meine Kirgisischkenntnisse beschränken sich leider nur auf zehn Worte; dagegen ist mein Russisch zwar umfangreicher, aber auch nicht ausreichend genug. Seitdem bevorzuge ich die Klassenstufen acht aufwärts 😉

Weg vom klassischen Tafelunterricht zum aktiveren und effizienteren Methoden, den Kindern gefällt's ;)
Weg vom klassischen Tafelunterricht hin zum aktiveren und effizienteren Methoden – den Schülern gefällt’s 😉

Wie ein Schauer positiver wie negativer Erinnerungen an meine eigenen Lehrer während der Gymnasialzeit überkamen mich, als ich nun allein vor der Klasse stand und in ähnlicher Position war. Auch aus Fehlern Anderer kann man lernen, wie ich oft in der Rolle als Schüler feststellen musste. Wer hätte gedacht, dass ich einmal in Kirgistan Sprachen unterrichte? Als hätte ich nie etwas anderes getan, fühle ich die Gene meiner zwei ebenfalls lehrenden Großväter aufgehen – mit Hingabe lehren. Auch wenn ich in meinem Studium nie Pädagogik vertieft habe (na gut zwei Semester Ingenieurpädagogik), habe ich vor allem mit einem bei den Kindern im Alter von 10 bis 17 Jahren Erfolg. Ich höre ihnen mit dem Herzen aufmerksam zu und versetze mich so in ihre Position, um ihre Probleme zu erkennen. Letztlich ist meine eigene Schulzeit ja auch noch nicht allzu lang her.

Englisch.Unterricht in der 6. Klasse. Meine liebe Kollegin Galan hat einige Momente festgehalten. Weg vom klassischen Frontalunterricht...
Englisch-Unterricht in der 6. Klasse. Meine liebe Kollegin Galina hat diese Momente dankenswerterweise einmal festgehalten
Leben am Issyk-Kul-See, der mit 1600 m der zweitgrößte Gebirgssee der Erde ist
Beschauliches Leben am klaren Issyk-Kul-See, der auf 1600 m der zweitgrößte Gebirgssee der Erde ist

Wenn ich keinen Unterricht habe, halten mich Asels und Adyls Kinder im Alter von einem bis acht Jahren in dem einzigen Raum des kleinen Hauses ordentlich in Bewegung. Deswegen komme ich auch kaum dazu, meinen Blog zu pflegen. Im kommunikativen Überlebenskampf wird mein Russisch notgedrungen jeden Tag besser, zumindest gewinnt es ständig an neuem Vokabular. Hier, mit Holzofen, Banja und Außentoilette genieße ich das einfache, aber zufriedene Leben. Genau das ist es, wonach ich mich nach der langen Zeit des Reisens gesehnt habe – einmal zur Ruhe zu kommen. Und eines weiß ich jetzt schon, dass mich der Abschied dieser freundlichen Menschen die eine oder andere Träne kosten wird. Ich hätte nicht gedacht, dass ich während dieser Zeit so viel Neues über das Lehren, vor allem aber über mich selbst lernen würde. Und genau das ist einer der ausschlaggebenden Gründe für meine lange, lange Reise.

8 Gedanken zu “Auf der Seidenstraße durch die Stans

  1. Johann

    Hey Martin,
    Schön mal wieder was von dir zu lesen. Deine Grüße über unsere gemeinsame Bonner Freundin sind angekommen, danke! Bei mir ging es heute los für 3 Wochen nach Kiel für meine Diplomarbeit, zwar bei weitem keine Weltreise, aber trotzdem ein spannender kleiner Bruch aus dem gewohnten Alltag in Dresden.
    Danke, dass du deine Erfahrungen hier teilst!
    Viele Grüße aus Kiel,
    Dein ehemaliger Mitbewohner

    Gefällt 1 Person

    1. Lieber Johann, vielen Dank für deine Zeilen. Der Draht zum Coni steht, auch dank unserer guten Seele der WG, Waldi 😉 Ich wünsche dir viel Kraft bei der DA und guten Fluss an der Küste. LG an Alle,
      herzlichst Martin

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  2. Lieber Martin,
    Ich freue mich, mal wieder von dir zu lesen. Ich kann mir das sehr gut vorstellen, dass man sich nach einiger Zeit des Reisens nach etwas Ruhe und Regelmäßigkeit des Tagesablaufs sehnt. Ob das unterrichten was für mich war, weiß ich nicht, aber du machst echt eine gute Figur als Lehrer. Und ich finde das viele Grün im Klassenzimmer sehr schön. Viel lebensfreundlicher als die Klassenzimmer meiner Schulzeit.
    Eine gute Zeit wünsche ich dir und freue mich auf deinen nächsten Eintrag, auch wenn das erst wieder in einem Monat sein sollte.

    Lieben Gruß aus Dresden, Gregor

    Gefällt 2 Personen

    1. Lieber Gregor, in der Tat ist eine gewisse Sättigung eingetreten; momentan werde ich aber wieder langsam hungrig auf das, was kommen wird. Ideen und Träume gehen mir nie aus 😉 Einen, den ich schon lange hege, ist hiermit in Erfüllung gegangen – das Lehren. Mal sehen, wie ich diese Neigung fortführen kann.
      Das Klassenzimmer im Foto ist das beste der ganzen Schule, um das von den Schülern, Eltern und der Lehrerin Sorge getragen wird. Die Ausstattung ist zwar nicht gerade üppig, aber man macht das Beste draus.
      LG Martin

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  3. Anonymous

    Ein sehr sehr schönes Internet-Reisetagebuch, lieber Martin !!!
    Deine Beschreibung und deine warmherzige Schilderung gefällt mir sehr gut, sehr bildhaft und lebendig !
    Man glaubt, dass man dabei ist !
    Mach bitte weiter so und viel Glück,Spaß und Freude :))
    LG Fred.

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    1. Vielen Dank, lieber Fred! Ich freue mich, dass dir mein Bericht gefällt. Wir beide schätzen die dokumentarische Arbeit ja bekanntermaßen sehr 😉 Diesmal lasse ich auch nicht so lang auf den nächsten Bericht warten.
      LG Martin

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  4. Andreas

    Hallo Martin, schön, dass es dir gut geht. War aufgrund der langen Sendepause ehrlich gesagt etwas beunruhigt. Umso erfreuter zu hören, dass du gut vorangekommen bist und jetzt in die Phase des intensiveren Eintauchens in andere Kulturen übergegangen bist. Vom Länderhopping muss dir ja schon ganz schwindelig geworden sein 😉 (jaja, nur der Neid des in good old germany im Alltagstrott fest hängenden).

    Andreas
    (der aus dem Zug nach Poprad)

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    1. Hallo Andreas, schön von dir zu hören! Ich hoffe es geht dir gut?! Schwindelig ist mir noch nicht geworden, Reisen macht eher süchtig 😉 Du weißt ja, womit du dem Alltagstrott entfliehen kannst: mit dem Nachtzug gen Osten. Du hast es also selbst in der Hand 😉

      Lieben Gruß in die Heimat und bis bald, Martin

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